Cover
Titel
1873. Der Gründerkrach und die Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie


Autor(en)
Schneider-Bertenburg, Lino
Reihe
Geschichte in Wissenschaft und Forschung
Erschienen
Stuttgart 2022: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, Karl-Marx-Haus, Trier

Krisen sind das Salz in der Suppe der journalistischen Berichterstattung. „Bad news are good news“, heißt eine journalistische Binsenweisheit. Krisendiskurse zu analysieren bietet sich demnach auch für historische Krisen an. In der Geschichte des 19. Jahrhunderts spielte die Krise von 1873, in Deutschland als „Gründerkrach“ bezeichnet, eine wichtige Rolle – galt die Krise und die anschließende Abkühlung der Wirtschaft doch lange Zeit als Beginn der „großen Depression“, die sich bis in die 1890er-Jahre hinzog. Diese wirtschaftshistorische Interpretation diente dabei auch dazu, sozial-, wirtschafts- und machtpolitische Prozesse wie Schutzzollpolitik, verschärfte Klassenbildung, Sozialistengesetz und Sozialstaatsformierung mit zu erklären. In dieser Eindeutigkeit wird dieser Ansatz heute nicht mehr vertreten. Wirtschaftshistoriker sprechen auch eher von einer großen Deflation statt Depression, gleichwohl werden die einschneidenden Krisenerfahrungen nach wie vor betont.1

Lino Schneider-Bertenburg will mit seiner Untersuchung zur Krise von 1873 und der „Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie“ ein verbindendes Element „zwischen einer rein wirtschaftshistorischen Analyse ökonomischer Krisenprozesse und der kulturgeschichtlichen Analyse eines gesellschaftlichen Krisendiskurses“ (S. 14) herstellen. Allerdings zeigen sich sowohl im Ansatz als auch im Ergebnis auf den fast 400 Textseiten die unterschiedlichen Verständnisse von dem, was Wirtschaftsgeschichte in ihren Extremen heute bedeutet. Auf der einen Seite stehen kulturgeschichtlich inspirierte Darstellungen wie die von Schneider-Bertenburg mit Verweisen auf die Institutionenökonomie und Regulationstheorie. In der Konsequenz kann so eine Wirtschaftsgeschichte geschrieben werden, die keine einzige Tabelle enthält und selbst die wenigen Zahlen, die auftauchen, muss man – etwas zugespitzt – geradezu zwischen den Zeilen des Buchs suchen. Auf der anderen Seite steht eine hochspezialisierte Wirtschaftsgeschichte, die sich erst gar nicht mehr mit Tabellen aufhält, sondern in oft hochkomplexen mathematischen Formeln Modelle für wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen entwirft. Die Verständigungsmöglichkeiten sind dabei begrenzt. Einer quantifizierenden Wirtschaftsgeschichte ist die kulturgeschichtliche Herangehensweise zu unbestimmt, zu vage; die andere Seite (so meint zumindest der Rezensent, der sich für Wirtschaftsgeschichte und ihre Zahlen interessiert) kann den komplexen mathematischen Herangehensweisen nicht folgen.

Diese grundsätzliche Verortung von Schneider-Bertenburgs Buch vorangestellt, lässt sich für den Text insgesamt festhalten, dass der wirtschaftshistorische Analyseteil nur rund ein Viertel des Gesamttextes ausmacht. Darin analysiert der Autor zunächst aus unterschiedlichen Perspektiven den Krisenbegriff an sich. Eine Krise kann demnach „als gesellschaftlicher Antriebsmechanismus“ und Innovationskraft funktionieren, aber auch und vor allem Ausdruck von Vertrauensverlust, von gravierenden Widersprüchen innerhalb des Systems sein: „Der zentrale, verbindende Begriff ist der der Unsicherheit“ (S. 65). Nach dieser vielschichtigen Begriffsbestimmung geht der Autor den konkreten Krisenherden in den USA, Wien und Berlin nach. Bei den Ursachen sind es neben einem übertriebenen Gründeroptimismus, der Immobilienspekulation, der „Überakkumulation“ (französische Reparationszahlungen nach 1871) sowie der Beschleunigung des Marktgeschehens „vor allem institutionelle Veränderungen, die Hinweise auf tieferliegende Ursachen geben können“, etwa die Liberalisierung des Aktienrechts oder die De-Regulierung der Finanzmärkte. In der Verknüpfung von kultur- und wirtschaftshistorischer Ursachenforschung schließlich wird das Muster des „Verlusts von Regelvertrauen“ (S. 111) in der Krise von 1873 deutlich.

Der Hauptteil der Arbeit, der sich mit der Krisenwahrnehmung in der deutschen Sozialdemokratie zwischen 1873 und 1878 auseinandersetzt, beginnt mit einer konzisen Darstellung der Entwicklung der deutschen politischen Arbeiterbewegungen zwischen Reichsgründung und Sozialistengesetz. Auf dem Einigungsparteitag von Gotha 1875 fanden die vorher rivalisierenden Bewegungen des von Ferdinand Lasalle 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ADAV sowie der 1869 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei SDAP zusammen.

In ihrer Methodik und in ihren Quellen beruht die Arbeit auf einer Sprachanalyse von über 500 Zeitungsartikeln aus den beiden Zeitungen „Neuer Social-Demokrat“ (ADAV) und „Volksstaat“ (SDAP). Ein solches Textvolumen zu bearbeiten, ermöglichen vor allem die digitalen Zugänge zu den Zeitungen, so dass relevante Artikel mit Hilfe von Suchbegriffen wie „Krach“, „Krise“, „Börse“ oder „Moral“ identifiziert und anschließend analysiert wurden. Den Begriff der „Moral“ in das Suchraster aufzunehmen, macht deutlich, wie stark solche Forschungen schon in ihrer Quellenauswahl determiniert werden und einen „Bias“ schaffen können. Das soll nicht heißen, dass eine Tag-für-Tag-Durchsicht der Zeitungen, die Schneider-Bertenburg zusätzlich vorgenommen hat, ein anderes, geschweige denn besseres Ergebnis gebracht hätte. Aber gewisse Festlegungen und Vorannahmen treten so offen zutage und sind – wie bei Schneider-Bertenburg geschehen – zu reflektieren und zu begründen.

In der Praxis und Konsequenz dieser Sprachanalyse hat dies zur Folge, dass die Leser und Leserinnen des Buches dem Autor bei seiner Text- und Quellenarbeit „zusehen“ können. Zitate und die entsprechenden Interpretationen und zugehörigen Analyseschritte wechseln sich auf den folgenden Seiten immer wieder unter unterschiedlichen Fragestellungen und Gesichtspunkten ab. Deutlich wird in beiden Zeitungen, dass die Krise als Folge einer „Ueberproduktion“ wahrgenommen wird, die nicht nur den deutschen (Finanz-)Markt, sondern auch den britischen und amerikanischen Geldmarkt betraf. Überhaupt hebt der Autor die Bedeutung der internationalen Sichtweise in den beiden sozialdemokratischen Zeitungen hervor, in der sich „nationale Reflexe und internationales Denken miteinander“ (S. 178f.) verbanden.

Aber nicht nur die ökonomische Wahrnehmung der Krise kommt in den Zeitungsartikeln deutlich zum Ausdruck. Vielmehr zeigt sich „wie sehr Fragen der Moral nicht nur als Ausdruck ökonomischer Verhältnisse gesehen wurden, sondern wie auch ein 'planloses' Wirtschaftssystem Zeichen einer unmoralischen Gesellschaft sein konnte. Beide Topoi standen in vielen Diskursfragmenten der Zeit unvermittelt nebeneinander“ (S. 225). Dabei bezieht der Autor eben nicht nur die Höhenkammliteratur, die Leitartikel und die Meinungsführer der Diskurse ein, sondern nimmt auch die Berichterstattung aus Vereinssitzungen in den Blick, in denen sich die Basis mit der Krise auseinandersetzte und den „großen Krach“ als Beispiel moralischen Systemversagens im Spekulationswesen diskutierte.

Wenn man den Autor in seiner strukturierten und feinfühligen Wahrnehmungsanalyse etwas vorwerfen kann, dann, dass sich der Rezensent angesichts des Facettenreichtums gelegentlich fragte, wohin treibt die Analyse, was ist ihr Kern? Die wirtschaftshistorischen Gesichtspunkte jedenfalls treten deutlich in den Hintergrund. In einem umfassenden und komplexen Schlusskapitel werden die Fäden aber schließlich zusammengeführt. Deutlich wird dabei, dass die Ideologie(-produktion) und Organisationsfähigkeit der Sozialdemokratie sich aus Sicht von Schneider-Bertenburg aus der Krise von 1873 und ihrer Wahrnehmung ableiten lässt. Dazu gehören die „Deutung der Krise als vorübergehender und selbstverständlicher Teil des Kapitalismus, dem mit besserer Organisation der Arbeiterschaft begegnet werden sollte“.

Daneben standen aber auch die Forderungen nach Systemumsturz oder die Hoffnung auf den „großen Kladderadatsch“ auf der einen Seite. Auf der anderen Seite zeichnete sich bei den Lösungsstrategien im „sozialistischen Diskurs“ das Argument ab, „dass der Staat in die Wirtschaft eingreifen und der arbeitenden Bevölkerung helfen sowie Krisen vermeiden oder entschärfen sollte“ (S. 382f.). Genutzt wurde die Krise auch, um die Spaltung der Gesellschaft als Klassengesellschaft aus moralischen Kategorien abzuleiten. Auf der einen Seite wurde die „‚unmoralische Moral‘ des Bürgertums“ in den Zeitungsartikeln herausgestrichen, auf der anderen Seite standen die Arbeiter und das Volk, welche die Moral gegen solche Pervertierungen verteidigen mussten. Die Gefahr dieses Denkens benennt Schneider-Bertenburg ebenfalls unmissverständlich: „Diese Sichtweise, die wenig pluralistisch-denkend von einem Monolith des ‚guten‘ Volkes und der ‚bösen‘ Eliten ausging, zeugte von einer Abneigung gegenüber demokratischen Deliberationen im Reichstag“ (S. 388).

In Schneider-Bertenburgs Buch sind von daher weniger die wirtschaftshistorischen Ergebnisse zentral. Vielmehr hat er insgesamt aus einer perspektivreichen Sprachanalyse eine erfrischende Untersuchung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen der 1870er-Jahre vorgelegt, die zwar nicht immer einfach zu lesen, aber für die Arbeiterbewegungsforschung anregend und gewinnbringend ist. Die Sozialdemokratie der 1870er-Jahre erscheint in ihrer Krisenrezeption als eine moralökonomisch argumentierende, ideologisch flexible Bewegung, die die Krise für ihre eigene Positionsbestimmung zu nutzen wusste und so ihre Gesellschaftskritik profilierte.

Anmerkung:
1 „Klassisch“ Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967; allgemein Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011, S. 79f.; Volker R. Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003, S. 54ff.

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